Vita

Tönnemann, Vitus Georg (* 1659 Höxter, † 1740 Wien)

Der Paderborner Jesuit V. G. Tönnemann war von 1705 bis 1711 Beichtvater und persönlicher Berater des um die Königsherrschaft in Spanien kämpfenden Habsburgers Karl III. Als dieser 1711 zum Kaiser ernannt und gekrönt wurde, setzte der Pater seinen Dienst unter dem Kaiser, der sich jetzt Karl VI. nannte, fort bis zu seinem Tod im Jahre 1740. So war er bis zu seinem 81. Lebensjahr insgesamt 35 Jahre im Dienste des zweiten Sohnes von Kaiser Leopold.

Tönnemann wurde am 26. 9. 1659 in Höxter geboren und in der geschichtsträchtigen Fürstabtei Corvey getauft. Von seinem 16. bis zu seinem 18. Lebensjahr (1675-1677) besuchte er zunächst die letzte Klasse (Rhetorica) des Gymnasiums der Jesuiten in Paderborn und absolvierte daran anschließend den dreijährigen philosophischen Aufbaukurs in zwei Jahren zusammen mit seinen Mitstudenten an der dortigen Jesuiten-Universität. Am 7. 12. 1677 tritt er in den Jesuitenorden ein. Es folgt ein relativ typischer Bildungsgang innerhalb des Jesuitenordens: Nach den obligatorischen zwei Jahren des Noviziats (in Trier) setzt er das Studium der Philosophie und der schönen Künste (artes liberales) fort – dies ist aber eher untypisch. 1681-1684 unterbricht er das Studium durch eine praktische Tätigkeit: Er wird Dozent („Repetent“) für Philosophie und die schönen Künste in Paderborn. Von ca. 1684-1688 nimmt er das Studium wieder auf (Theologie in Paderborn und Münster). 1687 wird er in Schloss Neuhaus (bei Paderborn) zum Priester geweiht. Nach dem Studium übt er wieder eine praktische Tätigkeit aus: In Meppen, das in der Nähe des Zusammenflusses von Hase und Ems in Niedersachsen liegt, wirkt er kurze Zeit als Dozent für Poetik und Rhetorik. Der spirituelle Abschluss der Ausbildung, das Tertiat in Haus Geist (bei Oelde im Münsterland), mündet am 2. 2. 1692 in die „ewige Profess“, wobei er vier Gelübde ablegen darf, d. h. er gehört nun zur Führungsriege der Jesuiten.

Als erster Einsatz wird eine Lehrtätigkeit in Paderborn (nach B. Duhr: in Münster) als Dozent für Philosophie genannt. Der bald folgende Auftrag, sich auf ein Lehramt in der Theologie vorzubereiten, deutet auf eine Professorenlaufbahn hin. Die geschichtliche Situation indessen fordert ihren Tribut: Die Ordensoberen schicken den jungen Pater ins nahe gelegene Büren, damit er sich dort mit der prekären Rechtssituation der Niederlassung der Jesuiten vertraut macht.

Diese versuchten seit langem vergeblich, ihren Anspruch auf das Erbe des Edelherren und Jesuiten Moritz von Büren († 1661) geltend zu machen, der in seinem Testament die Jesuiten als Universalerben eingesetzt hatte. In endlosen Streitigkeiten bes. mit nahen und entfernten Verwandten des Verstorbenen, mit dem Bischof und dem Domkapitel von Paderborn und schließlich mit dem Kurfürsten von Brandenburg, der einen Teil des Erbes erhalten hatte, drohte alles verloren zu gehen. Nachdem Tönnemann 1694 nach Wien aufgebrochen war, soll es ihm im Lauf von acht Jahren gelungen sein, alle Prozesse um Büren vor dem Reichshofrat – dem höchsten Gericht im Reich neben dem Reichskammergericht – zu gewinnen. Insbesondere ist der 1698 zwischen dem Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg und den Jesuiten geschlossene Vertrag zu erwähnen, in dem der Kurfürst auf seinen Anteil an dem Erbe des Moritz von Büren verzichtet. Nach einem Passus der Bürener Kollegschronik (zum Jahr 1698) soll Tönnemann seinen schon bestehenden Einfluss beim Kaiser Leopold dahingehend genutzt haben, dass dieser den Berliner Gesandten, wenn der wegen des Erwerbs der Königskrone vorstellig wurde, regelmäßig nach der Situation in Büren fragte. (Die Krönung erfolgte 1701.)

Auf Grund seiner juristischen Reputation verleiht ihm die „Theologische Fakultät in Wien“ am 30. 6. 1701 die Ehrendoktorwürde. Zwei Jahre später wird er auch Mitglied des Lehrkörpers dieser Fakultät.[1] Auf Grund seiner menschlichen und diplomatischen Fähigkeiten erhält der Pater ca. 1703 seine erste Anstellung durch Kaiser Leopld: Dieser ernennt ihn zum „Erzieher und Reisebegleiter“[2] des Prinzen Joseph von Lothringen (geb. 1685), des fünften Sohnes seines Schwagers Karl (V.) von Lothringen (1643-1690). Letzterer war als Generalissimus des kaiserlichen Heeres (von 1675-1688) einer der bedeutendsten Feldherren seiner Zeit.[3] Laut Thöne soll der Pater mit dem Prinzen die Österreichischen Erblande, die Lombardei und Ungarn kennengelernt haben.[4] Das bestätigt der „Wiener Nekrolog“:

„Aber er hatte mit diesem kaum Ungarn und die anderen Provinzen bereist, als er zum kaiserlichen Heer in der Lombardei und von dort nach Genua kam, und durch einen ganz sicher unerwarteten Brief als künftiger geistlicher Begleiter für König Karl, den König der spanischen Provinzen [5] nach Wien berufen wurde und von dem Herzog von Savoyen, Viktor Amadeus,[6] mit geheimen Aufträgen an den Kaiser im Januar im 5. Jahr [7] zurückgeschickt wurde.“[8]

Ob die Reise nach Ungarn bereits dem Zweck der militärischen Ausbildung des Prinzen diente, müsste geklärt werden. Ende 1703 jedenfalls – zwischen seinen italienischen Kriegszügen und den folgenden in Süddeutschland – ging Prinz Eugen von Wien aus nach Ungarn wegen der dortigen Aufstände.[9] Dass Tönnemann und von Lothringen „zum kaiserlichen Heer in der Lombardei“ stießen, dürfte schon eher darauf hindeuten, dass der Prinz dort für einen militärischen Einsatz vorgesehen war. Die Kämpfe auf dem oberitalienischen Kriegsschauplatz zogen sich während des ganzen Spanischen Erbfolgekrieges (1701-1713/1714) hin. Wikipedia bezeichnet Joseph von Lothringen als kaiserlichen General.[10] Dies müsste er dann schon in sehr jungen Jahren geworden sein. Der Grund für die neue Berufung Tönnemanns wird der Tod von P. Andreas Pauer, des Beichtvaters von Erzherzog Karl, im Oktober 1704 gewesen sein.[11] So trennten sich die Wege des Prinzen und des Paters.

Joseph von Lothringen starb im folgenden Jahr im Alter von 19 Jahren neun Tage nach seiner Verwundung während der Schlacht von Cassano,[12] die am 16. 8. 1705 stattfand und in der Prinz Eugen auf Vendôme, den Feldherrn der Franzosen, traf.[13] Es war die bis dahin blutigste Schlacht des spanischen Sukzessionkrieges.[14] Allein auf kaiserlicher Seite starben 4500 Mann.[15] Über den verstorbenen Prinzen teilte Prinz Eugen am 25. 8. 1705 an den Kaiser von Treviglio aus mit, dass er mit der Zeit ein großer Feldherr geworden wäre, „denn seine Tapferkeit sei unvergleichlich und sein Eifer zur Erlangung militärischer Kenntnisse so unermüdlich gewesen, daß er Tag und Nacht sich ausschließlich damit beschäftigt habe, sich in jeder Beziehung zum Kriegsdienste auszubilden.“[16]

Nachdem im Mai 1705 Kaiser Leopold gestorben war, schickte dessen erster Sohn und Nachfolger im Kaiseramt Josef (I.) den Pater Tönnemann mit dem Auftrag nach Wolfenbüttel (Salzdahlum), für seinen Bruder das Portrait der Prinzessin Elisabeth Christine zu besorgen. Dieser Brautschau entledigte sich Pater, indem er mit dem Portrait über Düsseldorf, Den Haag, England und Lissabon nach Barcelona reiste und es seinem neuen Dienstherrn, der gerade die Stadt erobert hatte, aushändigte. Bis 1711 begleitete er ihn während des wechselvollen Kriegsgeschehens des Spanischen Erbfolgekrieges. 1708 erfolgte die Ankunft der Braut, nachdem sie sich zum katholischen Glauben hatte bekehren lassen. Als ihre Konversion durch vorwiegend positive Gutachten von Helmstedter Theologen (1706) bekannt geworden war, erregten diese ein großes Aufsehen und eine theologische Kontroverse und hatten politische Auswirkungen bis nach England.

Mit dem zum Kaiser ernannten Karl (VI.) kehrt der Pater über Frankfurt am Main nach Wien zurück. Als nunmehr kaiserlicher Beichtvater ist ihm zugleich das Amt des obersten Militärkaplans des kaiserlichen Heeres anvertraut. Auf seine Bitte hin entzieht der Papst (Clemens XI.) den Bischöfen die Jurisdiktionsgewalt über die Soldatenseelsorge und überträgt dem Amt des obersten Militärkaplans grundsätzlich die Gesamtverantwortung sowie einzelne bischöfliche Vollmachten.

Als Beichtvater steht der Pater an herausgehobener Stelle und im Geflecht vielfältiger Beziehungen und Machtkonstellationen. Die Geschichtsschreibung des 19. Jh.s bezeichnet ihn als einflussreich (Vehse). Dieser Einfluss erstreckt sich aber nicht (mehr) auf eine militante Ausbreitung des katholischen Glaubens zu Lasten des Protestantismus – wie sie von einigen Beichtvätern während des 30jährigen Krieges praktiziert wurde –, sondern primär auf die Verteidigung der Rechte der Kirche und des (kirchen)rechtlichen Status quo. Weitreichend und ungezählt sollen in diesem Bereich seine Tätigkeiten und Kontakte gewesen sein. Um nur einzelne herausragende Beispiele zu nennen: Er ist eingeweiht in die letztlich ergebnislosen Konversionsbemühungen des zwielichtigen Herzogs Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin. Von Papst Clemens XI. wird er – neben anderen – in der europäischen Krise des Jahres 1717 um Vermittlung beim Kaiser gebeten (der Kaiser glaubte damals wie praktisch alle europäischen Höfe, dass der Papst einen Verrat Spaniens gedeckt hatte). Der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig Freiherr von Zinzendorf, erwähnt ihn dankbar in seinen Memoiren. Der Pater sorgt für einzelne Jesuitenkollegien und Niederlassungen. Bischöfe, Fürsten und Regenten wenden sich an ihn. Er gilt als unbestechlich.

Am 15. 3. 1740 stirbt Vitus Georg Tönnemann in Wien. Er wird in der Gruft der Kirche Am Hof begraben. Sein Grab ist erhalten. Sieben Monate später stirbt auch Kaiser Karl VI.

Quellen

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftenabteilung, Cod. 12134 = Litterae annuae Provin-ciae Austriae Societatis Jesu ad annum MDCCXL, caput XVIII: Elogium R. P. Georgij Viti Tönneman („Wiener Nekrolog“)

Literatur

Arneth, Alfred von: Prinz Eugen. Nach den handschriftlichen Quellen der kaiserlichen Archive, 3 Bde., 1. Bd.: 1663-1707; 2. Bd.: 1708-1718; 3. Bd.: 1719-1736, Wien 1858

Duhr, Bernhard: Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, 4 Bde. in 6 Teilbänden; Bde. 1-2, Freiburg i. Br. 1907. 1913; Bde. 3-4, München-Regensburg, 1921. 1928

Hoeck, Wilhelm: Anton Ulrich und Elisabeth Christine von Braunschweig-Lüneburg-Wolfenbüttel: Eine durch archivalische Dokumente begründete Darstellung ihres Übertritts zur römischen Kirche, Wolfenbüttel 1845, XIV S., (1) Bl., 320 S.: graph. Darst.; 8° (Als Elektronische Ressource erschienen: 2008, Hersteller: Braunschweig, Univ.-Bibl.; Gesamttitel: Brunsvigensien der Universitätsbibliothek Braunschweig: Braunschweiger Persönlichkeiten. Umfang: Online Ressource [349 JPG-Dateien] Technische Angaben: JPG, Digitalisierungsvorlage: Primärausgabe, Standort der Vorlage: UB Braunschweig <2228-6336>)

Korting, Georg: Vitus Georg Tönnemann (1659-1740). Ein Paderborner Jesuit am Kaiserhof in Wien. Mit Übersetzungen von Gerhard Kneißler und einem Beitrag von Jochen Hermann Vennebusch (Paderborner theologische Studien, 54), Paderborn u. a. 2011, 246 S.

Korting, Georg: Der Paderborner Jesuit Vitus Georg Tönnemann (1659-1740). Anwalt der Bürener Jesuiten in Wien, Beichtvater und persönlicher Berater Kaiser Karls VI. und Großkapellan des Kaiserlichen Heeres. Vortrag am 29. 6. 2010 auf Einladung des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Paderborn, in der Theologischen Fakultät Paderborn (überarb. Fassung Oktober 2010). Titel des Vortrags nachträglich leicht geändert, in:  29. Juni 2010 Theologische Fakultät Paderborn

Thöne, Wilhelm: Vitus Georg Thönemann 1659-1740. Ein Paderborner Diplomat am Hofe Kaiser Karls VI., Westfälische Zeitschrift 91 (1935) 47-60

Thöne, Wilhelm: Geschichte der Familie Thöne Warburger Stammes 1282-1938, Bad Soden am Taunus 1938

Thonemann, Helena Fyfe: Confessor to the Last of the Habsburgs. Vitus Georg Tönneman, S. J. (1659-1740). The unknown Jesuit Confessor to Charles VI (1685-1740) (Holy Roman Emperor, 1711-1740). A compilation, überarb. u. erw. Aufl., York Publishing Services Ltd., York 2008

Thonemann, Ralf A. H., Website: www.Thonemann.eu
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[1] Urkunden in: Korting, Teil C.

[2] Thöne, 50. Der Thöne-Text ist wiedergegeben und kommentiert in: Korting, Teil A.

[3] Karl (V.) von Lothringen (wikipedia). Arneth, Bd. 1, 16 f.

[4] Thöne, 50.

[5] Proklamation zum König von Spanien im Jahre 1703.

[6] Savoyen gehört damals der Koalition auf Seiten des Reiches an.

[7] Nach Hoeck, 56, Anm. 2 wurde P. Tönnemann „im Anfange des Jahres 1705“ zum Beichtvater Karls ernannt.

[8] „Wiener Nekrolog“, p. 109. Übersetzung von G. Kneißler, in: Korting, Teil C.

[9] Arneth, Bd. I, 220 ff.

[10] Wikipedia (zu: Karl [V.] von Lothringen).

[11] Duhr, Bd. IV, Teil 2, 432. Zu Pauer vgl. auch Duhr, Bd. III, 798.

[12] Östlich von Mailand an der Adda.

[13] Arneth, Bd. I, 322. 324. Prinz Eugen kämpfte erst seit April 1705 wieder in Italien. Vgl. Arneth, Bd. I, 309.

[14] Arneth, Bd. I, 326.

[15] Nach Eugens eigenen Angaben. Arneth, Bd. I, 325.

[16] Arneth, Bd. I, 326 mit Anm. 8 auf S. 475.

G. Korting, Paderborn, letzte Bearbeitung 24. Januar 2011